Lange leben im Dorf

Geschrieben von: Leben im Dorf am .

lid-wallmerod-klLandflucht: Reportage von Julia Rothhaas, Süddeutsche Zeitung, 20. Mai 2018

Viele abgelegene Orte in Deutschland kämpfen gegen Abwanderung. Ein Bürgermeister im Westerwald will nicht zusehen, wie seine Heimat verödet. Er holt die Menschen zurück.

Das Haus da hinten in der Kurve. Das ockerfarbene gegenüber. Das mit dem Wintergarten und das alte Feuerwehrgerätehaus auch. Das alles sind "seine" Häuser. Klaus Lütkefedder rauscht mit einem Mercedes durch die Dörfer und zeigt auf Gebäude, als wären sie Pokale in einer Vitrine. Seiner Vitrine.

Entlang der B 8, die sich durch die Verbandsgemeinde Wallmerod im Westerwald schlängelt, sieht kein Haus aus wie das andere, jeder darf hier bauen, wie er will. Ein stilistisches Chaos, mehr Trainingsjacke als maßgeschneiderter Anzug, so wie Lütkefedder einen trägt. Den Wildwuchs kann man begrüßen oder beklagen, ihm ist es egal. Hauptsache, die Menschen bleiben. "Es geht nicht darum, denkmalgeschützte Museumsorte zu schaffen. Sondern darum, wie wir die Leute wieder ins Dorf bekommen."

Zwar gibt es ICE-Bahnhöfe im nah gelegenen Montabaur und Limburg, die A3 führt durch die grünen Hügel, und nach Frankfurt oder Köln fährt man in einer guten Stunde mit dem Auto. Doch ein bisschen ab vom Schuss ist eben auch ab vom Schuss. Während viele Gemeinden bei den Worten Abwanderung und Dorfsterben in Schockstarre verfallen, will Bürgermeister Klaus Lütkefedder nicht nur zusehen, wie sich seine Heimat verändert. Er versucht, den gesellschaftlichen Wandel aufzuhalten. Mit einer Idee, die so einfach klingt, dass man sich wundert, dass sie nicht öfter zum Einsatz kommt.

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Vor 14 Jahren zählt er mit seinen Kollegen alle leer stehenden Häuser, unbebaute Grundstücke, aber auch Gebäude, in denen Menschen über 70 wohnen. Potenzieller Leerstand also. In der Verbandsgemeinde Wallmerod kommen sie so auf 800 "Problemgrundstücke", ein Sechstel des gesamten Baulands. "Wenn Sie durch die Orte fahren, sehen Sie das nicht. Aber ist der Leerstand erst sichtbar, wäre er bestimmt doppelt so hoch. Und doppelt so viel Leerstand bedeutet nun mal doppelt so viele Probleme", sagt der 56-Jährige.

Deswegen werden seit 2004 keine Neubaugebiete mehr ausgewiesen, damit erst einmal die Baulücken im Ortskern aufgefüllt werden. Ergänzend haben sie das Förderprogramm "Leben im Dorf" eingeführt, um den Neubau oder die Sanierung der Häuser zu unterstützen. "Seine" Häuser, auf die er jetzt stolz durch die Windschutzscheibe zeigt. "Wir haben immer weniger Einwohner, da ist es idiotisch, darüber nachzudenken, noch mehr Fläche bebaubar zu machen", sagt Lütkefedder.

Er ist bereits in zweiter Amtszeit Verbandsbürgermeister von Wallmerod, einem Zusammenschluss von 21 Orten mit insgesamt knapp 15 000 Menschen. Diese Form der Verwaltung ist eine Besonderheit in Rheinland-Pfalz, nur Sachsen-Anhalt hat ein ähnliches Konstrukt. Der kleinste Ort hier hat 120 Einwohner, der größte 2100, alle mit eigenem Haushalt, Zuständigkeiten und Bürgermeister.

Videokolumne von Julia Rothhaas

80 Familien sind zugezogen, 300 Grundstücke haben sie in Wallmerod wiederbelebt

Wallmerod, Sitz der Verwaltungsgemeinde, war in den Sechzigerjahren ein begehrter Kurort, die Zechen im Ruhrgebiet schickten ihre Arbeiter wochenweise zum Luftschnappen. Es gab drei Bäcker, zwei Metzger, sieben Gaststätten, drei Schuhgeschäfte und zwei Schuster mit manchmal acht Gesellen gleichzeitig. Davon ist fast nichts mehr übrig. Viele Geschäfte entlang der Hauptstraße stehen leer, am Ortsende klüngelt die übliche Gang aus Rewe, Aldi, Rossmann. Wer heute Schuhe kaufen möchte in dem Ort, dessen berühmtester Bewohner Karl Hutter einst den Bügelverschluss von Flaschen erfunden hat, ist ohne Auto aufgeschmissen. Was man nicht sieht: Es hat sich trotzdem einiges getan in den vergangenen 14 Jahren. Ein Grundstück zu finden ist gar nicht mehr so einfach.

300 Projekte haben sie im Rahmen der Initiative "Leben im Dorf" gefördert, sprich: 300 Grundstücke in den Ortskernen wiederbelebt. Etwa 80 Familien sind dafür von außen in die Gemeinden gezogen, ansonsten ist der Bevölkerungsbestand etwa gleich geblieben. Für die Förderung haben sie knapp eine Million Euro ausgegeben, dabei aber mehr als 50 Millionen Euro an Investitionen angestoßen, die von privat in Um- und Neubauten geflossen sind. Das freut die heimischen Handwerker und füllt die Gemeindekassen mit Gewerbe- und Einkommensteuern. Nicht zu vergessen: der ökologische Aspekt. In Deutschland wird jeden Tag eine Fläche von mehr als 100 Fußballfeldern versiegelt. Rund um Wallmerod bleibt es grün. Zumindest jenseits der Gewerbegebiete, die als trostlose Grauzonen überall die deutsche Provinz flächendeckend verschandeln. Man wundert sich, wer in all den Großmärkten einkaufen soll, wenn bald kaum mehr einer da wohnt. Und warum der Flächenverbrauch nicht an die Zahl der Einwohner geknüpft ist?

lid wallmerod2 szNoch sind nicht alle Häuser saniert, aber das Ortsbild hat sich trotzdem verändert. (Foto: Felix Schmitt)


Wer in Wallmerod das Okay für die Fördermittel bekommt, erhält jährlich 1000 Euro, maximal fünf Mal. Familien mit Kindern werden drei Jahre länger bezuschusst. In den Bau müssen dafür mindestens 80 000 Euro reingesteckt werden, sonst zahle man am Ende beim Umbau jeder Garage mit. "Ich weiß, dass die Entscheidung, ins Dorf zu ziehen oder nicht, wohl kaum von 8000 Euro abhängt. Aber dadurch denken die Menschen wenigstens mal drüber nach", brummt Lütkefedder. Das Bauen will er niemandem verbieten, alle Gemeinden haben weiter freie Grundstücke in den ausgewiesenen Neubaugebieten. Nur gibt es eben keine weiteren mehr.

70 Prozent der Antragsteller sind junge Familien, so wie Simone Ludwig, die mit ihrem Mann und den 13-jährigen Zwillingen vor zehn Jahren aus der Eifel nach Wallmerod gezogen ist. Die Familie hat ein Haus gleich neben der Kirche gekauft, das viele Jahre lang als Schandfleck galt. "Total verwildert und voller Ratten, das Gebäude drohte einzustürzen", erzählt die 44-Jährige. Heute steht da ein orange leuchtendes Haus mit sorgfältig gepflegtem Garten, großer Terrasse und einem Teich. "Wir hätten das Haus auch ohne Förderung gekauft, weil wir uns hier gleich wohlgefühlt haben. Aber jedes Jahr 1 000 Euro, damit haben wir uns dann kleine Herzensprojekte erfüllt." Sie findet, dass sich im Ort viel getan hat, die Veränderungen seien deutlich spürbar.

Anders als in Neubaugebieten ist die Bevölkerung im Dorfkern besser durchmischt

Und doch muss man das Leben in Wallmerod mögen. Trotz der vielen Wälder und Wiesen drumherum sind die Straßendörfer nicht wirklich schön, abgesehen von einigen Fachwerkhäusern. Der Leerstand mag weniger geworden sein, öde ist es trotzdem. Keine heiß geliebte Idylle, sondern ewig Klinker, Carport, Thujahecke. Da hilft der liebevoll bepflanzte Terrakottatopf vor der Tür auch nichts. Die Orte haben weder Kern noch Marktplatz, deswegen trifft man sich nicht einfach zufällig. Weil alles so verzerrt ist entlang der B 8, fährt man lieber mit dem Auto um die Ecke, als zwei Minuten zu laufen. Dorf, das heißt hier auch: Wer ohne Ziel durch die Straßen spaziert, fällt auf. Die Heimat ist überschaubar, sie umspannt den Karnevalsverein, die Kirche, den Sportplatz - und das Eigenheim. Muss reichen.

Die Ludwigs sind längst in der Gemeinschaft integriert, über die Kinder kam man schnell ins Gespräch. Anders als in Neubaugebieten ist die Bevölkerung im Dorfkern besser durchmischt. Es entsteht keine Monokultur, während in den Baugebieten der Siebzigerjahre heute reihum goldene Hochzeit gefeiert wird.

"Was für Leib und Seele, das fehlt hier noch"

Dass Klaus Lütkefedder einer von hier ist, hat ihm bei seinem Vorhaben geholfen. So wie viele Nachbarn ist auch er jahrelang nach Mainz und Frankfurt gependelt. Doch weggezogen ist er nie. Dass er immer in Wallmerod geblieben ist, rechnet man ihm im Dorf hoch an. Eigentlich ist er Bauingenieur, deswegen prüft er selbst, ob zu viel Schnee auf dem Schuldach liegt und die Statik hält. Oder sucht auf Messen nach dem geeigneten Fuhrpark für seine Gemeinde. Im Mainzer Wirtschaftsministerium hat er gelernt, wo es welche Fördermaßnahmen gibt - und wie man sie bekommt.

Er parkt vor dem Freibad in Hundsangen und zeigt auf das Kinderbecken, in dem niemand tobt. Zu kalt an diesem Tag. Er grinst jetzt frech wie ein Zehnjähriger, der Grund: Den Umbau musste er nur zur Hälfte bezahlen. Die Kosten für die Schirme aus Holz, die über dem Schwimmbad Schatten spenden sollen, hat die EU übernommen. Förderung von Holzbaukonstruktionen. Es gibt noch einen Haufen weiterer Projekte, bei denen er Geld abgegriffen hat, etwa für ein Sportheim. Der lang gezogene, futuristische Bau in Herschbach, an dessen Flanken Pflanzen in Tongranulat wachsen, macht ihn fast genauso stolz wie die Initiative "Leben im Dorf".

Das Thema führt ihn inzwischen durch ganz Deutschland, das Interesse an seinen Vorträgen ist groß. "Wenn wir den Leuten nicht sagen können, warum sie bei uns bleiben sollen, wandern sie in die Städte ab. Dann verlieren wir unsere Existenzberechtigung." Er weiß aber auch, dass es nicht reicht, allein die Häuser zu sanieren. Was nützt ein attraktives Dorf, wenn das Leben im Dorf nicht attraktiv ist?

Für Arzt, Supermarkt und Schule kann er sorgen, zu jedem intakten Ort gehört aber noch etwas anderes: der Tratsch. In Elbingen quetscht sich Klaus Lütkefedder an den Männertisch im "Backes", der deutlich kleiner ist als die Tafel der Frauen. Die Jüngste hier dürfte Anfang sechzig sein, die meisten kennen sich schon ihr Leben lang. Als die Bäckerin mit ihrem Lieferwagen vor der Tür parkt, springen die Herrschaften auf, als säßen sie auf einem Trampolin. Die mobilen Händler, die Eier, Nudeln, Brot verkaufen, gab es in der Region schon immer. Der eine kam am Montag, der nächste am Mittwoch. Heute reisen sie gebündelt an. Eine halbe Stunde lang stehen sie auf dem Vorplatz des "Backes", des ehemaligen Backhauses. So ein Häuschen gibt es in fast jeder Gemeinde. Wenn die Elbinger eingedeckt sind mit Quarktaschen und Sonnenblumenbrot, fahren die Händler weiter nach Bilkheim, Zehnhausen und Weltersburg.

"2800 Menschen über 65 Jahre. Die Frage ist nicht: Brauchen wir zusätzliche Kindergärten?"

Hier am Tisch bekommt Klaus Lütkefedder die Sorgen seiner Bürger direkt eingeflüstert. "Wir haben aktuell 2800 Menschen, die über 65 Jahre alt sind. In zehn Jahren werden es rund 700 mehr sein. Die Frage, die wir uns stellen, ist also nicht unbedingt: Brauchen wir zusätzliche Kindergärten?" Deswegen hat er Anfang des Jahres ein weiteres Projekt ins Leben gerufen: "Lange leben im Dorf".

Er will, dass die Leute im Alter so lange wie möglich im eigenen Heim wohnen bleiben können. Dafür fördert er die Schaffung von barrierefreiem Wohnraum. Wer mindestens 20 000 Euro in eine ebenerdig begehbare Dusche oder einen Treppenlift investiert, bekommt einmalig 1000 Euro dazu. Gefördert wird auch, wer in seinem Haus eine abgeschlossene Wohneinheit schafft, die man dann neu vermieten kann. Die meisten Menschen nutzen im Alter nur noch einen Teil ihres Hauses, warum sollte der andere leer stehen?

Das alles könnte man noch viel weiter führen, glaubt Lütkefedder. Nicht alle seine Ideen kommen gut an. Den Auffrischungskurs für ältere Autofahrer, die ihre Erledigungen damit bis ins hohe Alter autark erledigen können, fand nur einer gut: er selbst. Dass es manchmal durchaus Sinn macht, den Führerschein abzugeben, wenn man den Kopf nur noch schwer drehen kann? Müsse man ausprobieren.

Simone Ludwig hat inzwischen ihr nächstes Herzensprojekt geplant, auch ohne Fördergeld. Sie will aus der Gartenlaube auf ihrem Grundstück ein kleines Café machen und dort selbstgemachte Gelees und Liköre verkaufen. "Was für Leib und Seele, das fehlt hier noch." In ihren alten Heimatort zieht es sie nicht zurück. Da stehen zu viele Häuser leer.

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